Es kommt bislang nicht allzu häufig vor, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Deutschland Schlagzeilen macht. Am
Mittwoch voriger Woche war es allerdings so weit. "Fluggäste erhalten bis zu 600 Euro bei Verspätung", titelte die "Frankfurter
Allgemeine", "Kein Platz für Ausflüchte" das Handelsblatt, sogar "Bild" meldete auf Seite 1: "Verspätung am Ziel entscheidend".
Keine Erwähnung fand in vielen Blättern dagegen ein anderes, sperrigeres Urteil der sogenannten Großen Kammer des EuGH
vom selben Tag. Dabei handelt es sich hier um einen Grundsatzentscheid, mit dem der EuGH das Grundrechtssystem in der EU erschüttert
- und damit an die Souveränität der Bundesrepublik und aller übrigen EU-Staaten rührt.
Kern des Richterspruchs ist die Frage, in welchen Fällen die EU-Grundrechtecharta anzuwenden ist und was die nationalen
Gerichte noch zu sagen haben. Mit der neuen Entscheidung beschreitet der Luxemburger Gerichtshof einen Weg, der zur Kollision
mit den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts führt - und zum Konflikt darüber, wer das letzte Wort hat in Europa.
Das könnte hierzulande zu schweren rechtlichen Verwerfungen führen. Die europäischen Richter würden in Fragen urteilen,
für die bislang die Mitgliedstaaten zuständig sind, etwa im Straf- und Ausländerrecht oder beim Beamtenwesen. Dass dies ein
"unfreundlicher Akt" sei, ist noch eine der vorsichtigeren Formulierungen, die man dazu aus dem Bundesverfassungsgericht hört.
Die Kollegen in Luxemburg, sagt ein Karlsruher Richter, wollten sich offenbar zu einem "Überverfassungsgericht aufschwingen".
Das aber sei unmöglich, "solange es in der EU souveräne Mitgliedstaaten gibt".
Dem Urteil liegt der Fall eines schwedischen Fischers zugrunde. Er soll versucht haben, Steuern und Sozialversicherungsabgaben
in Höhe von fast 700 000 schwedischen Kronen (rund 80 000 Euro) - darunter knapp 150 000 Kronen Mehrwertsteuer
- zu hinterziehen. Deshalb musste er 2007 einen Zuschlag auf seine Steuern und Abgaben zahlen.
Zudem wurde er zwei Jahre später vor einem schwedischen Gericht angeklagt. Die Richter dort fragten sich allerdings, ob
eine Verurteilung nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung aus der EU-Grundrechtecharta verstieße. Diese Frage legten sie
dem EuGH vor; Bürger können dort in der Regel nicht klagen.
Der Generalanwalt des EuGH, eine Art Gutachter, empfahl den Europarichtern, sich "für unzuständig" zu erklären. Auch die
Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten und selbst die EU-Kommission hielten die europäischen Grundrechte nicht für anwendbar,
weil es in dem Fall ausschließlich um nationale Rechtsvorschriften gehe, die nicht auf EU-Recht beruhten. Allein: Nichts davon
beeindruckte die Richter um den griechischen EuGH-Präsidenten Vassilios Skouris.
Die Grundrechtecharta wurde 2000 eigentlich geschaffen, um die EU-Organe daran zu binden - aber auch die Mitgliedstaaten,
wenn sie quasi im Namen der EU tätig sind. Auch auf Drängen der deutschen Seite wurde festgeschrieben, dass die Charta für
die Mitgliedstaaten "ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union" gilt. Diese Formulierung legen die Luxemburger
Richter nun extrem weit aus.
Steuerverstöße zu sanktionieren ist eigentlich Sache der Mitgliedstaaten. Dennoch meinen die Luxemburger Richter, dass
die schwedischen Behörden im Fall des Fischers zwecks Durchführung von EU-Recht handelten: Aus den EU-Verträgen ergebe sich
eine "Verpflichtung zur wirksamen Ahndung" von Verhalten, das finanzielle Interessen der EU gefährde - und da sich die EU-Beiträge
der Mitgliedstaaten auch nach ihrem Mehrwertsteueraufkommen richteten, bestehe ein Zusammenhang zum europäischen Recht.
"Mit dieser Methode", sagt der Göttinger Europa- und Verfassungsrechtler Frank Schorkopf, "lassen sich solche Zusammenhänge
fast beliebig herstellen, weil die Verträge der EU den Mitgliedstaaten in nahezu allen Lebensbereichen irgendwelche Pflichten
auferlegen." Zwar erklärte der EuGH, er wolle nur Mindeststandards garantieren. Der nationale Grundrechtsschutz dürfe also
weiter reichen - aber nur, wenn dadurch weder "der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt
werden". Schorkopf befürchtet: "Kein Mensch kann vorhersagen, wie der EuGH das im Einzelfall auslegt."
Dem muss die Sprengkraft der Entscheidung bewusst gewesen sein. Wenn Grundrechte in einem Bundesstaat oder einem Staatenverbund
verbürgt werden, ist dies konfliktträchtig, weil dadurch typischerweise die Mitgliedstaaten geschwächt werden: Der Amerikanische
Bürgerkrieg entzündete sich 1861 nicht zuletzt an der Frage, ob Sklaven in allen Staaten verfassungsmäßige Rechte erhalten
sollten.
Zu einem Bürgerkrieg wird das Luxemburger Urteil nicht führen, aber die Richter in Karlsruhe werden sich wohl nicht kampflos
geschlagen geben. Viele Mittel haben sie indes nicht. Sie könnten den bislang sorgsam vermiedenen Vorwurf erheben, der EuGH
überschreite seine Kompetenzen; das wäre der offene Kampf. Oder sie wählen die subversive Taktik, über die in Karlsruhe auch
schon nachgedacht wird: dem EuGH nun so viele Fälle vorzulegen, bis die Kollegen merken, dass sie sich übernommen haben.
Auch die Änderung der Judikatur habe ich genau auf 6 Monate vorausgeagt der Artikel stand in vielen Zeitungen- Unterhalt
für die Vergangenheit - zuvor galt hier in Österreich Römisches Recht : nemo pro paeterito alitur -frei übersetzt keine Alimentation
für die Vergangenheit . Man half sich mit der versio in rem - § 1o42 ABGB Aufwand durch einen Dritten -geht 30 Jahre - eine
unechte Condiction.